Yoga – Wie man ein Yogi wird – Vortrag von Selvarajan Yesudian

Yoga – Wie man ein Yogi wird

Kampfsportschule Aarau

Vortrag von Selvarajan Yesudian, Yoga-Meister und Arzt

Tief in der Seele eines jeden Menschen lebt unauslöslich der Durst nach absoluter Freiheit!

Seit er hier auf Erden zum ersten Mal seine Augen öffnete, ist er unzufrieden, weil er sich in seinen Lebensverhältnissen als Gefangener fühlt. Er ist unglücklich, weil er nicht tun kann, was er will, – unzufrieden mit seinen Fähigkeiten, da er sich durch diese aus der Gefangenschaft nicht befreien kann. Er sehnt sich nach der schrankenlosen, unbegrenzten Unendlichkeit, er möchte fliegen, sich im Raum ungehindert bewegen wie der Vogel: er möchte vollkommen frei sein.

Dieses Streben nach Freiheit ist bei dem primitivsten Menschen ebenso ausgeprägt wie bei dem kultiviertesten, ob er sich dessen bewusst ist oder nicht. Vom Urmenschen an, der sich, um seine Macht zu vergrössern, eine Keule schuf, bis zu dem modernen Menschen, der alle Errungenschaften der Technik für seine Bequemlichkeit und für seine persönlichen Zwecke ausnützen will, streben alle unbewusst nach der Freiheit. Und da der Mensch die Freiheit nicht dort sucht, wo sie zu finden ist, sinkt er immer tiefer in die Versklavung. Auch das Ringen um Geld und Wohlstand hat seinen verborgenen Grund darin, dass alle glauben, Macht und Geld bringe ihnen die ersehnte Freiheit. Das Resultat ist genau das Gegenteil. Ihr ganzes Leben vergeuden sie im Ringen nach Geld und Macht, und die ganze Kraft ihres Verstandes gebrauchen sie nur dazu, um sie auszudenken, wie sie ihre Mitmenschen ausbeuten und wie sie sie, wenn sie ihnen im Wege stehen, zur Seite schieben könnten. Wenn es ihnen dann gelingt, ein Vermögen zu erwerben, werden sie die Sklaven ihres Reichtums und ihrer Position. Sie werfen alle inneren Werte des Lebens fort und richten ihr eigenes, sowie das Leben ihrer Angehörigen zugrunde.

Wenn wir uns im alltäglichen Leben umschauen, so sehen wir, wie die Menschen an ihren eigenen, selbstgeschmiedeten Ketten leiden, sogar dann, wenn sie von der Sehnsucht nach Freiheit erfüllt sind. Auch diese Sehnsucht umwindet ihre Glieder mit neuen Ketten, schlägt sie in neue Fesseln.

Gibt es überhaupt eine Möglichkeit für den Menschen, frei zu werden? –

Ja, gewiss! Wir müssen uns aber von unserer Person befreien, weil die ihr innewohnenden Begierden und Wünsche uns versklaven. Nur wenn wir uns von diesen befreien, erlangen wir die vollkommene Freiheit!

Die einzige wahre Freiheit ist die vollkommene Wunschlosigkeit!

Die Wunschlosigkeit befreit uns von dem täuschenden Zauber der materiellen Welt. Die Wunschlosigkeit öffnet unsere Augen, weil sich durch sie unsere Standpunkte von Grund auf ändern; wir können objektiv sein und alles nach dem eigenen inneren Wert beurteilen. Die Wunschlosigkeit befreit uns von den Leiden, da alle Leiden von unerfüllten Wünschen verursacht werden. Die Wunschlosigkeit erlöst uns vom Tode, denn wenn die Wünsche uns nicht mehr in die materielle Welt hinunterziehen, hört der ewige Kreislauf von Geborenwerden und Sterben für uns auf. Wir werden die, über Zeit und Raum stehende, ewige Freiheit geniessen können. – Schon in unserem irdischen Körper können wir dies erleben, denn wenn auch der Körper der materiellen Welt angehört, kann sich unser Bewusstsein bis zu Ebene der geistigen Allmacht und dem Allwissen erheben und in ihr vollkommen aufgehen. Haben wir das erreicht, dann verwirklicht sich das Versprechen der Bibel: „Aufgetrocknet werden alle Zähren von der Menschen Augen, es wird kein Tod mehr sein und kein bitteres Weinen, kein Jammern und keinerlei Schmerz…“

Der Mensch ist ein vortrefflich zusammengesetztes Werkzeug, um den Geist in der materiellen Welt zu offenbaren. Er ist berufen, – wenn auch sein Körper der materiellen Welt angehört, – sich mit seinem Bewusstsein in die höchsten geistigen Sphären einzuschalten und diese durch seinen Verstand in Wort, Schrift und Tat zu verwirklichen. Die Tragödie des Menschen beginnt dann, wenn er das hohe Ziel seines Daseins aus den Augen verliert und sich mit dem Körper und dessen Wünschen identifiziert. Er vergisst, dass sein ICH geistig und unsterblich ist und an dem immerwährenden, weltallbelebenden SEIN Teil hat. Identifiziert er sich aber mit dem Körper, dann wird er nicht Herr über die in seinem Körper wirkenden gigantischen Naturkräfte, sondern Sklave derselben, und so, sich tief in die materielle Welt verankernd, stösst er sich in die schwerste Gefangenschaft. Wie die Bibel sagt: „Wo eure Schätze sind, dort ist auch euer Herz.“

Solange unsere Wünsche uns an das Materielle binden, können wir nicht frei sein, wir sind Gefangene der irdischen Sphäre. Das Resultat ist aber Unzufriedenheit und Unglück, weil der Mensch sich in seiner Blindheit von der Einheit trennt und dadurch isoliert wird. Durch die Lockerung seiner Einheit mit dem Universellen werden seine Kräfte geschwächt, und damit stösst er sich in die ständig wachsenden Qualen des Alleinseins und der Leere, bis er gezwungen ist, Hilfe zu suchen. Und auch hier begehen die Menschen einen Irrtum. Von aussen suchen sie Hilfe, anstatt aus ihren eigenen unerschöpflichen Kraftquellen zu schöpfen. Die inneren Kräfte sind in jedem Menschen vorhanden, sind aber dem Durchschnittsmenschen unerreichbar, weil sie ausserhalb seines Bewusstseins liegen. Oder es kann auch vorkommen, dass ein Alltagsmensch seine inneren schöpferischen Kräfte entdeckt, sie aber umgekehrt gebraucht, auf dämonische Weise, und anstatt sie positiv, aufbauend zu verwenden, verwandelt er die göttlichen Kräfte in zerstörende und vernichtet und verheert damit all das, was geistig hochstehenden Menschen vor ihm für die Menschheit geschaffen haben.

Die Geschichte der Erde beweist, dass nach der Erdengeburt eines gigantischen Geistes immer eine gewaltige geistige Entwicklung einsetzt. Wir können den Aufschwung von grossen Kulturen und den dazugehörigen Religionen beobachten, die eine Periode von hohem Glanze erreichten. Aber nach einer solchen glanzvollen Periode folgt immer eine im Materialismus verankerte Epoche, deren Unglaube dann Auflösung, Niedergang und Zerstörung verursacht.

Es gibt jedoch ein Gebiet auf Erde, wo die geographischen Verhältnisse ein geschichtliches Geschehen unmöglich machen. Und das ist der Himalaja. Dieses Gebirge in seiner unerhörten Masse, in seiner Unnahbarkeit, mit seinen klimatischen Verhältnissen, mit dem Einwirken noch anderer Komponenten, verhindert, dass zwischen seinen Berggipfeln Geschichte sich abspielen kann. Aber umso geeigneter ist es, die in seinen Tälern, Bergen und Höhlen wohnenden Eremiten von der Welt zu verbergen, sie vor der Zudringlichkeit der Menge zu schützen. Diejenigen, die sich in dieses Gebiet während Jahrtausenden zurückgezogen haben und heute noch zurückziehen, waren und sind Menschen, die nicht für Äusserlichkeiten, sondern nur für das Wesentliche leben. Diese Eremiten konzentrierten sich ganz und gar auf die Geheimnisse des Menschen und des Lebens, und sie gaben den Kampf solange nicht auf, bis sie den Sinn des Seins entdeckt hatten. Die Wahrheit gab ihrem unaufhörlichen Drängen nach, ihr Geist wurde erleuchtet, sie verstanden das Leben, sie gewahrten die letzten Ursachen, und vor ihnen öffnete sich der Weg, der aus den Leiden in die Freiheit, in das Glück, in die Seligkeit führt. Sie wussten, dass dies für jeden erreichbar ist, und sich der Leidenden erbarmend, begannen sie diese zu belehren, ihnen den Weg zu weisen zu der Erlösung, – zu der vollkommenen Befreiung! –

Zum Berggipfel führen verschiedene Wege. Es gibt Wanderer, die den bequemen Serpentinenweg gehen, weil ihr Körper der starken Steigung nicht gewachsen ist. Dann gibt es solche, die den Weg schon verkürzen und auf einem steileren Pfade vorwärtskommen. Schliesslich gibt es noch jene, die den kürzesten Weg wählen und die himmelhoch aufragenden Felswände empor klettern, um am schnellsten zum Ziele zu gelangen.

Genauso kann der Mensch seiner seelischen und körperlichen Beschaffenheit gemäss verschiedene Wege einschlagen, um das innere, hohe Ziel zu erreichen. Die grossen Lehrer haben viele verschiedene Systeme ausgearbeitet, damit die Erfüllung für jeden Menschen erreichbar sei. Diese Systeme verkürzen den Weg, und wer sie befolgt, gelangt schneller zum Ziel.

Der Sammelname dieser Systeme ist: YOGA.

Und einen grossen Lehrer und Meister, der auf diesem Wege zum Ziel gelangt ist, nennen wir: YOGI.

In Indien ist es alltäglich, dass ein Mensch sich plötzlich aufmacht, sein Heim verlässt, sich in das gelbe Gewand der Pilger hüllt und fortzieht, um seinen Meister zu suchen. Solche Menschen erreichten die Stufe, auf welcher man nur noch den Sinn des Lebens zu erfassen sucht, – sie wollen einzig für das Wesentliche leben, nicht aber für das Alltägliche, mit seinen vielen Geschehnissen und Erlebnissen, die den wahren Sinn des Lebens nur in sich verbergen. Sie wollen den Sinn des Lebens, – das Wesentliche – verwirklichen, sie betrachten dieses Erdenleben nur als Gegenteil, um die Augen aufzutun und das Wesentliche zu erblicken. Es ist wie eine Geschichte, die mit ihren vielen Kümmernissen und Freunden nur darum geschrieben wurde, um aus ihr gewisse Lehren ziehen zu können. Doch wozu braucht derjenige, dessen Augen schon offen sind, die Geschichte? Er will nur die nackte, konzentrierte Lehre! Es wäre schade, die Zeit für Unwesentliches zu vergeuden!

Der berühmte Indienreisende Dr. Ervin Baktay war Augenzeuge eines Falles, als auf einer Jagd bei dem Maharadscha von Patiala ein vornehmer Inder durch den Blick des abgeschossenen, sterbenden Tiere in solchem Masse erschüttert wurde, dass er sein Gewehr plötzlich hinlegte und wegging, um von nun an sein Leben ganz dem Yoga zu widmen. – In Indien versucht niemand, einen solchen Menschen zurückzuhalten, weil alle wissen, dass eine innere Erleuchtung ihn auf diesen Weg geführt hat. Die verlassene Familie jammert auch nicht über die Trennung von dem geliebten Familienmitglied, sondern segnet seine Schritte.

Es kommt auch oft vor, dass jemand den Wanderstab ergreift, weil er auf telepathischem Wege eine Botschaft von einem grossen Meister, von einem Yogi, erhalten hat. Er könne kommen, seine Zeit sei da, um zu lernen und zu finden, wonach sich seine Seele sehnt. Diese telepathische Botschaft ist keine Einbildung, sondern eine auf Naturgesetzen gegründete Tatsache, ähnlich der drahtlosen Telegraphie oder dem Radio. Auch die Wellenlängen der Gedanken haben ihren Sende- und Empfangsstationen auf der ganzen Welt, und wenn wir in unserer inneren Sammlung die Wellenlänge des ausgestrahlten Gedankens eines grossen Meisters erreichen, kommen wir mit ihm automatisch in Verbindung. Hochstehende Menschen, Yogis, Tischis und Maharischis senden und strahlen Gedanken aus, die durch die Kraft des Geistes ausserordentlich durchdringend sind und weithin wirken. Von ihrem Aufenthaltsort im Gebirge strahlen sie ihre Botschaft aus an jene, die reif für das Wesentliche im Leben geworden sind… Derjenige, der die Stimme hört, folgt ihr… mit festem Entschluss, zu jeder Entbehrung bereit! Den sicheren Grund des gewohnten Lebens verlassend, geht der Wanderer mutig in die Leere, in das Nichts, das vor ihm steht, um die Macht der Zeit und des Raumes zu besiegen. Sein Ziel ist, sich über die Welt des Körperlichen zu erheben und die Schätze der geistigen Welt zu erobern. Er wandert von Dorf zu Dorf, Rast haltend auf den Kirchenstufen, zwischen ihm ähnlichen Wanderern. Der hochintelligente Pilger studiert in seiner Abgeschiedenheit die heiligen Bücher Indiens, die Veden, Upanischaden und die uralten Sutras, und wenn es noch so sonderbar klingt, die Bibel und den Koran! – Tief in den Wäldern begegnet er Eremiten und lernt von diesen Weisen die Mysterie der Stille und der Einsamkeit. Immer tiefer dringt er in die unberührte Natur und oben, in dem Hochgebirge, wohin Menschen nur selten gelangen, wandert der Pilger umher, um seinen Meister zu finden. Unter Entbehrungen und Versuchungen, von Beeren und Wurzeln genährt, in der Nähe wilder Tiere, durch undurchdringliches Gestrüpp im Urwald, folgt er der unsichtbaren Stimme, die ihn unwiderstehlich zu sich ruft. Endlich, schon beinahe die Hoffnung verlierend, findet er die im tiefsten Walde verborgene Yogasiedlung. Er eilt glücklich seinem Meister entgegen, der ihn als neues Familienmitglied mit Liebe aufnimmt. Dann beginnt die Einweihung.

Diese Art von Siedlung, in der ein grosser Meister von vielen Schülern umgeben ist, nennt man: Aschram. Das Leben ist hier möglichst einfach. Die Eremiten kennen die Schatzkammer des Waldes. Pflanzen, Wurzeln, Pilze, wilden Honig gibt es im Urwald genug. Es klingt wohl sonderbar, aber es ist eine Tatsache, dass die Eremiten in der höchsten körperlichen und geistigen Kultur leben. Ein tägliches Bad und systematische seelische Übungen sorgen dir die körperliche uns seelische Reinheit. Es wäre für diese Menschen eine tiefe Herabsetzung, in das sogenannte „zivilisierte“ Stadtleben zurückkehren zu müssen.

Die ganze Umgebung der Siedlung ist geweiht, feierlich und andachterweckend. Die Ausstrahlung der zusammenlebend hochgeistigen Menschen hält die Eindringlinge, besonders aber solche, die die Tiere des Dschungels töten würden, in einer Entfernung von mehreren Kilometern zurück. Diese mit hochentwickelten Sinnen begabten Menschen fühlen schon auf grosse Entfernung das Nahen eines anderen Menschen. Diese Feinfühligkeit entwickeln sie auch durch regelmässiges Üben. Bei Tieren ist diese Sensibilität allgemein. Zum Beispiel spürt der Affe aus unglaublicher Entfernung das Nahen einer Schlange oder eines Tigers, oder ein durstiges Tier spürt auf viele Kilometer das Wasser und stürzt dorthin über Stock und Stein, um seinen Durst zu löschen. Yogis fühlen auch von weitem, wenn jemand sich naht, ob sein Besuch erwünscht ist oder nicht. Im letzteren Falle strahlen sie hypnotische Kräfte aus, durch deren Wirkung der Nahende den Weg zum Aschram entweder nicht sieht, oder es ihm scheint, als ob dort statt des Weges ein Felsblock oder ein Wasserfall wäre, und so fällt es ihm nicht ein, in dieser Richtung zu gehen. Er ahnt ja nicht, dass der Felsbrock oder der Wasserfall eine Vision in seinem Innern und keine objektive Wirklichkeit sind. So bewahrt der Aschram seinen Frieden und seine reine Atmosphäre. – Mensch und Tier leben hier in vollständigem Einklang, sie halten die Gesetze des Dschungels streng ein. Der neue Schüler muss zuerst die Sprache der Tiere lernen. Er muss mit den Schlangen, den Tigern, Leoparden, Geparden und den anderen Tieren sprechen lernen, damit sie ihn in seiner Unwissenheit nicht anfallen und zerreissen. Auch ein europäischer Yogaschüler kann dies erlernen. – Jede Scholle, jeder Grashalm, jeder Baum und jede Pflanze, kurz, die ganze lebende Natur erfüllt die Seele desjenigen, der jahrelang in einer Yogasiedlung gelebt hat. Er fühlt sich eins mit dem ganzen All!

Versuchen wir einmal uns an die Stelle eines Neuangekommenen zu setzen, der kaum den Betrieb, den Verkehr und die Jagd des zivilisierten Alltagslebens verlassen hat.

Wenn er sich hinsetzt, um sich auf die innere Ruhe zu konzentrieren, bestürmen ihn tausende und abertausende von Eindrücken aus seinem bisherigen Leben und lassen ihm keine Ruhe. Mit der Erweiterung seines Bewusstsein wird dies nicht besser, sondern im Gegenteil: die Unruhe steigert sich, weil die Welt, die hinter dem Bewusstsein liegt, bewusst zu werden beginnt und alle Eindrücke, von der Geburt an, auch die, die er schon längst vergessen und begraben glaubte, in ihm wieder aufleben und ihn mit solcher Wucht bestürmen, als ob er immer wieder von neuem alles in Wirklichkeit erleben müsste. Diese Periode ist die schwerste! – Er muss mit jeder Erinnerung abrechnen, jeden Eindruck verarbeiten, damit er sein bisheriges Leben nicht mehr als eine Folge persönlicher Erlebnisse empfindet, sondern, dass er jedes Geschehen, das er erlebt hat, – sollte es gut oder schlecht sein, – abklärt und zur Erfahrung kristallisiert. Wenn er auf die Wendungen seines Lebens zurückblickt, darf er diese nur als Gelegenheit auffassen, aus denen er eine Lehre ziehen konnte. Er muss die Ursachen und die Kräfte erblicken, die hinter den Erlebnissen und äusseren Eindrücken gewirkt und ihn immer näher zum Ziel gebracht haben. Diese waren geeignet, sein Unterscheidungsvermögen zu entwickeln und in ihm, von Stufe zu Stufe, den Wunsch zu erwecken, sich aus der Vergänglichkeit, aus der Gefangenschaft zu befreien, um die vollkommene Befreiung in dem EWIGEN zu erreichen.

Wenn er in dieser Periode der Verarbeitung so weit kommt, dass er jede Erinnerung nur als eine Gelegenheit betrachtet, um Erfahrungen zu sammeln, als ob all dies mit einem anderen geschehen wäre, dann binden ihn die Erinnerungen nicht mehr, weil die persönlichen Beziehungen aufgehört haben. Die Erinnerungen sind aus seinen Unbewussten befreit, er hat sie verarbeitet und umgewandelt; sie stören und beunruhigen ihn nicht mehr. So erringt der Yogi-Schüler – der „Tschela“ – die innere Ruhe. Er kommt in Einklang mit der ihn umgebenden Urnatur und ihrem erhabenen heiligen Frieden.

Dann erst kann die Konzentration auf die Kraftzentren – im Sanskrit: Tschakras genannt – beginnen. Der Yogi-Schüler muss diese mit dem Bewusstsein und mit seinem bewussten Willen, Stufe um Stufe erobern. Tschakras nennen wir die Kraftzentren in dem seelischen Leib des Menschen, die ihren Sitz im Körper, in den verschiedenen Nervenzentren, haben. Die meisten von diesen Kraftzentren, besonders diejenigen, die geistig-magische Kräfte in Bewegung setzen können, befinden sich auf der heutigen Entwicklungsstufe der Menschheit noch in latentem, schlummerndem Zustand. So sind auch die mit ihnen verbundenen Nervenzentren ausser Gebrauch. Nach den neuesten Entdeckungen der westlichen medizinischen Wissenschaft kennt man auch hier im Westen schon einige von diesen, zur Funktion bereiten, aber noch ausser Dienst stehenden Nervenzentren. Wozu sie aber da sind und wie man sie in Aktivität setzen könnte, ist heute im Westen noch unbekannt. Die orientalischen Yogis kennen schon seit Jahrtausenden die Geheimnisse dieser Tschakras und den grossen Nutzen ihrer Funktionen. Sie bemühen sich mit hingebender Liebe, ihren Mitmenschen beizubringen, welche unermesslichen Möglichkeiten sie in sich bergen. Da es aber unbedingt notwendig ist, dass ein jeder durch inneres Erleben diese Tschakras kennen lernt und sie seinem Willen unterordnet, so kann man ihre Existenz nur denjenigen beweisen, die geneigt sind, diese Tatsachen an sich selbst zu erproben und dafür ein kleines Opfer zu bringen. Der Orientale hat sich schon lange daran gewöhnt, dass man seinen Worten hier im Westen, ohne diese an sich selbst auszuprobieren, keinen Glauben schenkt, und dass man ihn auslacht, wenn er über Fähigkeiten spricht, die zwar für jeden Menschen erreichbar, deren Naturgesetze hier im Westen aber noch unbekannt sind. In Indien ist es schon oft vorgekommen, dass grosse Yogis zum Nutzen der Wissenschaft ihre aussergewöhnlichen Fähigkeiten vorführten. Das Resultat war meistens, dass die westlichen Wissenschaftler sich auf ihre Art das vorgeführte Wunder nicht erklären konnten, es als eine schwarze Kunst beurteilten und annahmen, dass der Yogi sie mit geschickter Gaukelei irregeführt habe. In der Mentalität des östlichen und westlichen Menschen herrscht ein grundlegender Unterschied: der westliche Mensch glaubt nicht an Dinge, die ihm ungewohnt sind, und ohne sie zu prüfen hält er sie für unmöglich und lacht über sie. Der Orientale behauptet nie, dass etwas unmöglich sei und zweifelt auch nicht daran, solange er es nicht selbst erprobt hat. Demütig bekennt er, dass der Mensch vieles noch nicht weiss, folglich soll man nicht behaupten, dass etwas unmöglich sei.

Im Jahre 1890 erklärte der grosse Yogi Swami Vivekananda in Chicago die Wahrheiten des Yoga und behauptete, dass der Mensch auch Nervenzentren besitze, mit deren Hilfe er in die Ferne wirken und telepathische Erscheinungen erzeugen könne. Dies geschieht mit den elektrizitätähnlichen Wellen, die der Mensch ausstrahlt und andererseits auch aus dem Raum empfängt. – Die Gelehrten des Westen haben ihn jedoch ausgelacht und geantwortet, dass man keines seiner Worte ernst nehmen könne, denn jeder wisse, dass elektrische Wellen ohne Kabel oder ohne Drähte nicht weitergeleitet werden können. Fünfzig Jahre später wusste ein jeder, dass Swami Vivekananda Recht hatte. Er kannte diese Wahrheiten aus eigenen innerem Erleben, aber es ihm nachzumachen und an sich selbst durch langes Übern auszuprobieren, dazu waren die westlichen Gelehrten nicht bereit. Es ist viel leichter über einen anderen höhnisch zu lachen. – Genauso ergeht es auch heute noch den Yogis, die unter strengster Kontrolle gewillt sind, zu beweisen, dass der Mensch die Fähigkeit besitzt, aus seinem Körper herauszutreten und nach Belieben wieder in denselben zurückzukehren. Die Orientalen sind unter solchen Phänomenen aufgewachsen und finden daran nichts Aussergewöhnliches!

Es geschah in meiner Kindheit, dass ich einmal einen Bettler beobachtete, der sich Almosen dadurch erworben hatte, dass er seine Zunge bis zur Wurzel herausstreckte und dann mit einem scharfen Messer tiefe Wunden in sie hineinschnitt. Mit Abscheu sah ich, wie die Einschnitte das dicke Fleisch seiner Zunge zerteilten, so dass der innere Aufbau, auch die Adern der Zunge sichtbar wurden. Danach streifte er mit seiner rechten Hand einige Male über die Wunden, – und siehe, diese verschwanden so gründlich, dass nicht einmal ein Schnitt oder eine Narbe zurückblieben. Ich ging hinein zu meinem Vater, der Arzt war und fragte ihn, wie dies möglich sei? „Mein Sohn“, antwortete mein Vater, – „es ist nichts Unnatürliches dabei. Der Heilungsprozess geht auch in diesem Falle vor sich, aber der Büsser kennt die Methode, wie er seinen Körper in ein anderes Zeitmass einschalten kann. Siehst du, das einzellige Lebewesen hatte Millionen von Jahren nötig, um die Entwicklung über Reptilien, Vögel, Säugetiere, bis zum Menschen zu durchlaufen. Dennoch macht der menschliche Embryo von der Befruchtung bis zur Geburt den ganzen Entwicklungsprozess in beschleunigter Zeit, in neun Monaten durch. Die Kontinuität des Entwicklungsprozesses ist unumgänglich. Es gibt keinen Sprung in der Natur, aber die Zeitdauer kann beschleunigt und abgekürzt werden. Der Geist triumphiert über Zeit und Raum, weil er von Gott stammt und ewig ist. Der Mensch besitzt die Möglichkeit, die Zeit nach Belieben zu lenken und die Dauer einer Heilung zu verkürzen oder sogar seine Lebensdauer zu verlängern. Genauso kann er die Herrschaft über den Raum gewinnen, wenn er seine telepathische Fähigkeit zur Entfaltung bringt. Er kann sich hier- und dorthin projizieren, wann und wohin er will. Die Gefangenschaft der Zeit und des Raumes kann für den Menschen schon hier auf Erden aufhören.“

Das Ziel der Yogis ist aber nicht, diejenigen Tschakras in Funktion zu versetzen, mit welchen man körperliche Erscheinungen hervorbringen kann. Sie sind nur Miterscheinungen bei der Erweckung jener Tschakras, mit welchen man geistige Kräfte in Bewegung setzt. Der Yogi-Schüler bringt mit seinen Übungen diese Tschakras in Funktion und ordnet sie seinem Willen unter. In dem Masse, in dem er hierin Fortschritte macht, beginnt sich sein inneres Sehen und Hören, beginnen sich andere geistige Fähigkeiten, die bisher noch in schlummerndem Zustand waren, zu entwickeln. Das Wesentliche ist die Entfaltung und Ausdehnung seines Bewusstseins und dessen Lenkung bis in die kleinste Teile seines Körpers hinein. Er lernt über jeden Gedanken, jedes Gefühl, jede Bewegung, sogar über die Bewegung der inneren Organe, Herr zu werden. Wenn er den Ursprung dieser Kräfte kennen gelernt hat, dann kann er sie auch mit seinem Willen schon bei ihrer Wurzel fassen und lenken. Seiner Entwicklung gemäss wird er auch Herr über die Natur sein können. Im Menschen wirken dieselben Kräfte wie in der Natur, und wer diese Kräfte in seinem Innern beherrscht, kann sie auch draussen in der Natur beherrschen. Es sind schöpferische Kräfte, und je mehr sich das Bewusstsein des Menschen dem Absoluten nähert, umso mehr wird er Herr über das schöpferische Prinzip. Dieser Entwicklungsgrad ist für jeden erreichbar, aber vielen erscheint er deswegen unerreichbar, weil sie die Schöpfungskräfte, die sich durch sie offenbaren, schrankenlos vergeuden, indem sie ihre körperlichen Wünsche nicht einmal für kurze Zeit beherrschen wollen.

Der Yogi entsagt nicht! – Es ist ein Irrtum zu denken, dass nur diejenigen sich dem Yoga widmen, die allem entsagen wollen. Im Gegenteil! – Der Yogi will viel mehr erreichen als die weltlichen Menschen. Er will ALLES! Das Leben selbst, – die Unsterblichkeit, – die Unvergänglichkeit, – die vollkommene Glückseligkeit will er erringen. Er ist nicht zufrieden mit einem Teil. Er will das Ganze! Weltliche Macht, sinnliche Freuden, irdisches Glück, – all dies ist vergänglich, – eine Fata Morgana, – ein Traum, aus dem wir früher oder später aufwachen müssen! Die Seele, die nach dem Unendlichen, Unsterblichen strebt, kann nur durch das EWIGE befriedigt werden, weil sie selbst unsterblich und ewig ist!

Wir sollen uns auf keinen Fall vorstellen, dass die Yogis versauerte, lebensfremde Menschen sind. Sie sind von jeder seelischen und körperlichen Krankheit genesene, also vollkommen gesunde Menschen! – Sie haben keine irdischen Sorgen und Kümmernisse mehr, sie sind fei von Bitterkeit, verletzter Eitelkeit, verletztem Ehrgeiz, unbefriedigter Geldgier, von Eifersucht. Wovon sollen sie schlecht gelaunt, verbittert und sauer sein? – Die Yogis haben den besten Humor, der menschliche Schwäche versteht und ein goldiges Gemüt, das um sich her die reinste Fröhlichkeit und Heiterkeit verbreitet. Der grosse indische Heilige Rama Krischna sagte seinen Schülern, wenn sie aus lauter übertriebenem Eifer, um möglichst „heilig“ zu sein, sich nicht trauten ein fröhliches Gesicht zu machen: „Meine Kinder, verwechselt nicht Heiligkeit mit Griesgrämgkeit!“

Yoga ist in allen Zeiten und überall dasselbe; ein System, aufgebaut auf Gesetzen der Natur und dadurch ebenso der Weg des Ostens wie auch der des Westens. Die Hatha-Yoga-Übungen werden aus seelischen und körperlichen Gesundheitsgründen auf der ganzen Welt über ganz gleich geübt. Aber solche, die den höhere Grad des Yoga erreicht haben und ausgesprochene „Yogis“ geworden sind, findet man nur noch selten in Indien und in Tibet. Es waren, sind und werden immer Suchende sein, die die innere Stimme hören und aus Indien und auch aus der ganzen Welt aufbrechen, dem inneren Ruf zu folgen. Hoch oben im Himalaja und in anderen, mit Urwald bedeckten Gebieten, in einer Gegend, wo der Mensch selten seinen Fuss hinsetzt, haben die Yoga-Schulen ihren geeignetsten Platz. Für diejenigen, die ihre Körperlichkeit besiegt haben, ist die Yoga-Siedlung ihr Heim, wo sie nach den Regeln des Yoga leben. Mit Ausdauer und Geduld üben sie hier solange, bis endlich der grosse Tag anbricht: die Grenzen des menschlichen Bewusstseins herunterfallen und sie die Seligkeit des Aufgehens im EWIGEN erleben. Von Sterblichen zu Unsterblichen geworden, dienen sie der Welt nunmehr im heiligen Namen der Liebe, der Weisheit und der Wahrheit.

Es braucht die Arbeit vieler Jahre, um auf diese Stufe zu gelangen, aber die Zeit ist kein Faktor in den Augen dieser hochgesinnten Menschen. Sie wissen, dass auf dem Wege des Yoga kein Schritt umsonst getan wird. Was sie in diesem Leben nicht erreichen können, erreichen sie in einem darauffolgenden, wenn sie bis dahin alles tun, um die Erfüllung zu verdienen.

Ich selber kam sehr jung, als heranwachsender Knabe, unter die Führung eines grossen Meisters. Meine Kindheit verging im stetem Leider durch eine Reihenfolge von Krankheiten, und ich hatte kaum Hoffnung, je gesund zu werden. Mein Meister Mohan Sing führte mich in den Wald und fing an, sich mit mir voller unendlicher Geduld und Liebe zu beschäftigen. Er lehrte mich, wie ich ohne jede Bewegung, ausschliesslich durch die Lenkung bewusster Gedankenkraft, meinen Körper selbst aufbauen kann, ohne mein von den Krankheiten stark geschwächtes Herz mit dynamischen Turnübungen anzustrengen. Ich wäre gar nicht fähig gewesen, Körperübungen zu machen. Mein Meister belehrte mich über den inneren Sinn der Yoga-Übungen, das Bewusstmachen des Körpers, das Geheimnis der Wirbelsäule und wie man die positiven und negativen Kräfte ins Gleichgewicht bringt, – kurz, er lehrte mich die vollkommene Gesundheit. Dabei führte er mich immer tiefer in das Wesen des geistigen Lebens ein.

Ich begann meine eigenen und der Welt innerste Geheimnisse kennen zu lernen, das unsterbliche, göttliche Selbst zu erfassen und lernte dessen vollkommenes Haus, das wunderbare göttliche Gebäude und zugleich Instrument, den menschlichen Körper schätzen. Mein Meister lehrte mich die Wunder der Natur und leitete mich auf dem Wege, der zur Erfüllung, zur Erlösung führt. Mit nie vergessener Liebe und Dankbarkeit denke ich an ihn, denn wie ein Vater stand er neben mir in meinen schweren körperlichen und seelischen Kämpfen, die ein jeder durchkämpfen muss, wenn er zum inneren Frieden gelangen will. Mit edlem Bestreben ging er daran, mich mir selbst zurückzugeben und zeigte mir, dass nur derjenige frei werden kann, der aus seinen körperlichen Wünschen herauswächst und eins wird mit seinem göttlich-geistigen ICH. Unabhängig von allem, wie die Sonne, von niemanden Hilfe erwartend und an niemanden gebunden, ist er selbst des Lebens ewige Quelle:

Die AUFERSTEHUNG,
die UNSTERBLICHKEIT
DAS LEBEN SELBST.

Yoga AarauZeichnung von Selvarajan Yesudian

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